Man ist nie zu alt für rote Lippen

Für die 102-Jährige ist bis heute wichtig, sich adrett, wie sie es nennt, zu kleiden. Schon immer modebewusst, wählt sie heute noch mit Bedacht ihre Kleidungsstücke aus, kombiniert sie geschickt und achtet darauf, dass alles gut zusammenpasst. Erst zum Schluss trägt sie ihren knallroten Lippenstift auf, ihr kleines Markenzeichen, und dann noch etwas Rouge für die Wangen. „Und schon sehe ich frisch und jung aus“, verrät die 102-Jährige ihr Geheimnis.

Als eine Frau mit mehr als 100 Jahren Lebenserfahrung nimmt sie eine ganz besondere Rolle ein: Sie müsse niemandem mehr etwas beweisen, sondern könne sich schonungslos ehrlich und selbstbewusst zeigen. Und selbstverständlich mit Lippenstift, auch mit 102 Lebensjahren. Was hat also eine so selbstbewusste 102-Jährige zu erzählen? Jede Menge. Denn ein so langes Leben bringt schließlich einen großen Schatz an Erfahrungen mit sich. In einem einzigartigen Gespräch, das nachdenken lässt, erzählt sie, was in ihrem Leben wirklich wichtig war.

Drei Ehemänner hat sie verloren. Dennoch wird schnell klar, dass sie sich trotz der Verluste, Rückschläge und schweren Arbeit ihre positive Grundhaltung und eine Neugierde bewahrt hat. Dass sie trotz größter Schwierigkeiten in bewundernswerter Weise diszipliniert und herzlich geblieben ist. Und sie betont: „Das Leben ist schön.“ Sie ist heiter gestimmt, nimmt es, wie es kommt. Ja, Ruth Wagner ist hochbetagt, lässt sich ihre 100 Lenze aber nicht anmerken.

Lebensfroh hadert sie nicht und wartet erst recht nicht auf den Tod. Morgens steht sie noch ganz allein, ohne Hilfe auf, braucht erst einmal eine Tasse Kaffee und dann wird mit den anderen Bewohner*innen gemeinsam gefrühstückt. Am liebsten isst sie morgens Graubrot mit Belag. Inzwischen braucht sie beim Brote-Schmieren etwas Hilfe, aber die nimmt sie dankend an. Und sie ist ein Leckermäulchen, mag vor allem Süßspeisen.

Alterswehwehchen nimmt sie wacker: die Ohren, die nicht mehr gut hören, die Beine, die Unterstützung vom Rollator brauchen, und die ersten Vergesslichkeiten. Und dennoch, das eigene Leben wird nicht bereut, im Gegenteil. In einem Jahrhundert hat Ruth Wagner viele ihr nahestehende Menschen verloren. Halt gab ihr immer die Familie. Sie hat einen Sohn und eine Tochter großgezogen, freut sich über vier Enkel und vier Urenkelchen. Auf ihre Familie ist sie besonders stolz und erzählt es allen, die es hören wollen.

In Breslau geboren, kam sie nach dem Krieg nach Berlin und Anfang der 1990er nach Potsdam, in die Nähe ihrer Kinder. Sie ist klein, trägt die Haare kurz und eine Brille auf der Nase. Eine Ausbildung konnte sie damals, als junges Mädchen, nicht machen. Sie war sehr zierlich, aber dennoch fleißig und konnte anpacken. Erst hat sie bei einem Landwirt gearbeitet, musste „Kartoffeln buddeln“, wie sie erzählt. „Der sagte aber dann, ich bin zu schwächlich“, erinnert sie sich. Von da an arbeitete sie in seinem Haushalt. Später in einer Drogerie. „Die Kund*innen kamen am liebsten zu mir, um sich von mir beraten und bedienen zu lassen. Das war eine schöne Arbeit“, schwärmt sie. Sie berichtet auch, dass sie später in ein Büro wechselte. Dabei betont sie immer wieder, dass sie fleißig war, sehr fleißig, denn „Fleiß bringt dich weiter“, weiß Ruth Wagner.

Seit 2017 lebt sie in der Seniorenresidenz KATHARINENHOF ABENDSTERN in Potsdam. Ihr Zimmer ist besonders liebevoll und persönlich eingerichtet. Zwei gemütliche Sessel, eine Stehlampe, ein Wandregal mit einer Figurensammlung und eine Blumenecke. An der Wand ein paar sehr alte, gerahmte Fotografien, die sie und ihre Familie zeigen, und ein paar gemalte Bilder. Wer die Bilder gemalt hat, weiß sie nicht mehr. Aber manchmal betrachtet sie die Pinselstriche und versinkt für einen Moment in Gedanken.

An der Wand hängt eine Mandoline. Wie alt die wohl sein mag? Ruth Wagner kann es nicht mehr sagen, nur dass die Mandoline sie schon lange begleitet. Noten kann sie nicht lesen, trotzdem hat sie noch lange Zeit für ihre Nachbar*innen im ABENDSTERN auf der Mandoline oder ihrem Keyboard gespielt. Wenn irgendwo aus dem Radio Schlager ertönen, dann wird sie ganz hellhörig, denn Schlager und Tanz, das mochte sie gerne. Dann erzählt sie, wie sie mit roten Lippen und einer schicken Perücke zu Tanzabenden ging und dabei die schwere Arbeit und manche Last vergessen konnte.

Das Alter und das Älterwerden sind Themen, die oft verdrängt werden. Die Angst vor der Einschränkung, dem Nicht-mehr-gebraucht-Werden und die Einsamkeit lassen uns wegschauen. Geht es um 100-Jährige, bekommt das Alter plötzlich einen Glanz, etwas Geheimnisvolles. Weil sie wissen, was es für ein gutes Leben braucht.

Ruth Wagner erlebt ihr hohes Alter bei relativ guter Gesundheit, ist lebensbejahend und etwas ganz bestimmt nicht: verbittert und einsam. Im Gegenteil, zum Abschied wirft sie mit ihren roten Lippen einen Kussmund zu. Selbstbewusst und heiter, wie sie ist.

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Katja Liebenthal
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