Das Herz ist der stärkste Kompass

Carmen, Sie sind 59 Jahre alt. Dürfen wir Ihnen das Du anbieten?

Aber ja, hier im Haus duzen mich alle. Ein erwachsenes und vertrautes, respektvolles und verbundenes Du gehört zu meinem Arbeitsalltag dazu. Trotzdem muss ich meinen Namen oft wiederholen, weil die Bewohner*innen ihn vergessen. Aber das macht mir nichts. Ich verstehe ja, warum sie ihn sich nicht merken.

Du bist seit der Eröffnung der Einrichtung vor 20 Jahren hier im Haus. Eine lange Zeit. Was hat sich seitdem verändert?

Wo soll ich da anfangen? (lacht) Was sich wirklich deutlich verändert hat: Unsere ersten Bewohner*innen waren deutlich weniger demenziell erkrankt. Heute kommen sie zu uns, wenn die Krankheit schon weit, weit fortgeschritten ist. Manchmal so sehr, dass klassische Senioreneinrichtungen mit dem auffälligen Verhalten längst nicht mehr gut klarkommen und ein Einzug in unser Haus die beste Lösung ist.

Eure Einrichtung zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Architektur aus. Kannst du beschreiben, was das Besondere ist?

Aus der Vogelperspektive betrachtet, sieht das Haus wie ein vierblättriges Kleeblatt aus. Es besteht aus vier Rundbauten, die ineinander übergehen. Dadurch entstehen sogenannte Endlosflure, die den Bewohner*innen ermöglichen, ihrem enormen Bewegungsdrang nachzugehen, ohne dabei „verloren“ zu gehen. Würden sie unser Grundstück verlassen, würden sie sich im Ort verlaufen, denn sie können sich nicht mehr orientieren und manchen fehlt das Sprachvermögen. Das macht schnell panisch, wenn nichts mehr vertraut ist.

Wird es nicht auf Dauer recht eindimensional, immer hierzubleiben? Wollen die Menschen nicht mal raus?

Das nimmt man im ersten Moment an. Aber das ist die Perspektive eines gesunden Menschen, der alles selbst im Griff hat. Bei unseren Bewohner*innen, die sehr stark an Demenz erkrankt sind, sieht das völlig anders aus. Denn das Gedächtnis und die Hirnleistung sind fortschreitend so extrem beeinträchtigt, dass jede noch so kleine Veränderung Stress auslöst. Ihnen fehlt dann schlichtweg die Orientierung.

Andererseits gehen manche Bewohner*innen in Begleitung unserer Betreuungsassistent*innen mal einkaufen oder zum Gottesdienst. Aber eben in einem moderaten Rahmen, ohne zu überfordern. Dann ist ja eine helfende Hand dabei, die die Führung übernimmt, bevor es überhaupt kritisch werden kann.

Wie leben die Betroffenen hier konkret zusammen?

Wir haben Einzelzimmer und ein paar Doppelzimmer. Doch das Herzstück sind die Wohnbereiche, hier findet das tägliche Leben statt. Die Senioren leben ähnlich einer WG in kleinen Gruppen. Jede*r kann die Gesellschaft, die Ansprache und die Angebote nutzen oder sich in sein Zimmer zurückziehen. Aber die meiste Zeit sind alle im Wohnbereich oder im Garten bei den Tieren, dort ist es lebendig und abwechslungsreich.

Welche Erfahrung hast du in den zurückliegenden 20 Jahren gemacht?

Das Allerwichtigste ist wohl, dass sich unser Konzept täglich aufs Neue bewährt und unbedingt auf das Wohlbefinden der Betroffenen einzahlt, statt ihre Unruhezustände und wirklich schweren Verläufe mit Medikamenten zu regulieren.

Und wir haben uns zunehmend dafür stark gemacht, dass hier jede*r wirklich so sein darf, wie sie oder er ist. Akzeptieren, Freiräume lassen, ohne zu korrigieren oder zu maßregeln, gehört zu unserer offenen und akzeptierenden Grundhaltung. Wenn also jemand gerade jetzt drei Pullover übereinander tragen möchte, dann ist das okay. Es zu verbieten, löst nur Stress aus. Und darum haben wir auch eine tolle Haus-Un-Ordnung geschrieben.

Eine Haus-was?

Eine Haus-Un-Ordnung. Wir kennen das von zu Hause: Da soll bitte schön möglichst alles seinen festen Platz haben. Die Blumenvase hier, die Kaffeekanne dort und da die Hausschuhe. Das ist bei Menschen mit Demenz anders. Ihnen ständig hinterherzuräumen und darauf zu bestehen, dass das Sofakissen immer rechts zu liegen hat, macht einfach keinen Sinn und sorgt bei ihnen für unnötig Unruhe oder Aggression. Wenn es der- oder demjenigen aber gerade gut damit geht, dass sie oder er die Dinge verräumt, dann ist das in Ordnung. Wirklich.

Das klingt aber teilweise anstrengend, oder?

Wer in unser Team kommt, braucht eine gerontopsychiatrische Zusatzausbildung, um den Anforderungen gerecht zu werden. Aber vor allem auch, um die Bedürfnisse unserer Bewohner*innen wirklich zu verstehen und damit gut umgehen zu können. Und klar, es ist ein ewiger Drahtseilakt zwischen emotionaler Durchlässigkeit und gesunder Abgrenzung – Profi hin oder her. Aber ich sag dir was: Ich möchte in keinem gewöhnlichen Pflegeheim arbeiten, sondern nur hier.

Das klingt, als hättest du in dem Beruf deine Berufung gefunden.

Ja, tatsächlich. Es ist wirklich eine ganz besondere Arbeit, mit all ihren Herausforderungen. Aber dafür entscheidet man sich ja ganz bewusst. Ich glaube, man braucht für die Arbeit mit demenziell Erkrankten noch mehr Herzenswärme, Empathie und Verständnis, um der fortschreitenden Krankheit etwas entgegenzusetzen.

Wir sind die Ersatzfamilie, die rund um die Uhr da ist, die in den Arm nimmt, geduldig und verständnisvoll bleibt, lacht, singt, Kuchen backt, mit den Bewohner*innen Socken zusammenlegt, ihre Hand streichelt, ihnen Halt gibt, mit ihnen tanzt oder sie tröstend wiegt – was immer sie brauchen: Wir haben die Möglichkeit, es ihnen jederzeit zu geben. Und dabei lassen wir sie so sein, wie sie in dem Moment sind. Kein Korrigieren oder Bevormunden.

Wie erlebst du die Angehörigen? Ist es nicht dramatisch, mit anzusehen, wenn ein Mensch alles das, was ihn einmal ausgemacht hat, vergisst?

Angehörige sind oft erschöpft. Das, was wir im Team und in Schichten leisten, machen sie ganz allein. Das ist ein gewaltiger Kraftakt. Haben sie sich dann entschieden, dass die oder der demenziell erkrankte Partner*in, die Mutter oder der Vater bei uns einzieht, sind sie erleichtert und dankbar, auch wenn es schwerfällt, den geliebten Menschen loszulassen.

Andere haben ein schlechtes Gewissen, das sie an uns auslassen. Dann hören wir Sätze wie: „Ich bezahle doch dafür, wieso trägt mein Vater einen schmutzigen Pullover?“ Auch dafür haben wir Verständnis und erklären, dass es eben heute der Lieblingspullover ist und er ihn jetzt, in diesem Moment, braucht. Den Pullover auszutauschen, nur damit er tipptopp aussieht, wenn die Tochter kommt, stresst ihn, macht ihn aggressiv und ist gegen sein Wohlbefinden. Die Tochter dagegen sieht in ihrem Vater immer noch den Bänker, der jeden Tag Anzug und Hemd trug. Aber das ist er nicht mehr. Und diese Veränderung zu akzeptieren, fällt Angehörigen schwer.

Was für ein Wechselspiel. Dafür brauchst du viel Einfühlungsvermögen, und zwar für alle: die Bewohner*innen, die erkrankt sind, ihre Angehörigen, aber auch für dich selbst, oder?

Abgrenzung ist dabei ganz wichtig. Aber meine wichtigste Fähigkeit als Pflegeprofi ist meine Intuition. Von ihr, meiner Erfahrung und meinen tollen Kolleg*innen kann ich mich gut führen lassen. Denn unser großes Herz für die demenziell erkrankten Menschen ist unser stärkster Kompass.

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Katja Liebenthal
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